Zur enormen Bedeutung der mit dem menschlichem Organismus zusammenlebenden Mikroorganismen – die zusammen als Mikrobiom bezeichnet werden – gibt es sehr verschiedene Auffassungen. Schon über einhundert Jahren sind sich viele Vertreter der Naturheilkunde klar, dass im Darm zum Beispiel nicht nur Bakterien leben, die uns krank machen. Sondern auch und vor allem solche, die uns „wohlgesonnen“ sind und die uns nützen (die Normalflora). Im „schulmedizinischen Bereich“ der Medizin kehrt erst seit wenigen Jahren allgemein die Erkenntnis ein, dass das Mikrobiom von fundamentaler Bedeutung für die menschliche Entwicklung und Gesundheit ist. Eine Art „kleinsten Nenner“ dieser natürlichen, lebenswichtigen Bedeutungen fasst der folgende Text zur normalen Flora des Menschen zusammen:
Entwicklung des Immunsystems
Die Entwicklung des Abwehrsystems wird durch die physiologische, natürliche Bakterienflora stimuliert. Weil dies so ist, kommt es bei keimfrei aufgezogenen Versuchstieren sowohl zu Immun-Mangelzuständen als auch zur unvollständigen Ausbildung der Peyer-Plaques (quasi das Immun-Gehirn des Darms), die für die Entwicklung der eigenen Abwehrkraft von unverzichtbarer Bedeutung sind.
Kolonisationsresistenz
Das „ökologische Gleichgewicht“ der Normalflora ist ständig natürlichen Einflüssen ausgesetzt; es zeigt aber eine starke Tendenz, diesen Störfaktoren entgegenzuwirken und zum Optimum zurückzukehren. Daraus resultiert die sogenannte Kolonisationsresistenz. Sie bewirkt, dass aus der Umwelt eingedrungene Mikroorganismen sich nicht oder nur vorübergehend im Wirt ansiedeln können. Die Normalflora leistet also einen wichtigen Beitrag bei der Abwehr pathogener Erreger (Bakterien, Pilze). Dieses Prinzip ist bei jeder antibiotischen Therapie zu bedenken, da Antibiotika das Mikrobiom und damit die Abwehrfähigkeit schädigen können.
Infektionsquelle
Die Normalflora kann sich auch negativ auswirken. So stammt bei immunsupprimierten oder invasiv behandelten Patienten (zum Beispiel bei einer Krebs-Chemotherapie) die Mehrzahl der Infektionserreger aus der patienteneigenen Bakterienflora. Zudem können die Mitglieder der Normalflora nach vorausgegangener Schädigung (zum Beispiel Verbrennungen oder virale Infektion) eine Superinfektion (eine Bakterieninfektion, die sich auf eine Virusinfektion „aufpropft“) beziehungsweise nosokomiale Infektion hervorrufen (also bei Krankenhausaufenthalten „erworbene“ Infektionen). Fast immer sind jedoch schwere Schädigungen notwendige Voraussetzungen, damit unsere eigenen Mikroorganismen weiter in den Körper eindringen und/oder dort Infektions-Erkrankungen auslösen.
Krebsentstehung (Kanzerogenese)
Die Kanzerogenese wird im gastrointestinalen, also im Verdauungs-Trakt mit der Normalflora in Zusammenhang gebracht. Mikroorganismen sind daran beteiligt, einerseits Eiweiße (Proteine) bis zur Stufe der Aminosäuren abzubauen und andererseits Nitrat, das man häufig Fleisch als Konservierungsstoff zusetzt, zu Nitrit zu reduzieren. Amine und Nitrit reagieren im sauren Milieu des Magens spontan zu Nitrosaminen, die als potente Kanzerogene bekannt sind.Bei ballaststoffarmer Kost mit hohem Anteil tierischer Eiweiße und Fette fallen vermehrt Steroide und Gallensäurederivate an, die unter der Wirkung von Darmbakterien zu kanzerogenen Substanzen (zum Beispiel Cholanthren-Derivaten) metabolisiert werden. Unter dieser Diät nimmt die intraluminale Verweildauer der Fäzes zu, also des Kots im Darm; entsprechend höher ist die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) von Dickdarmkrebs (Kolonkarzinom).
Diese Beispiele erwähnen nicht einmal die weitgehend belegte Bedeutung unseres Mikrobioms für die Gewichtsregulation, den regelrechten Stoffwechsel (wichtig zum Beispiel bei Darmträgheit und Verstopfung), die natürliche Funktion des Darms oder die vielfältigen Wirkungen auf weitere körperlicher aber auch seelische Funktionen. Kurzum: Mensch und Mikroorganismen formen ein Lebewesen, dass von Biologen mit Fug und Recht als „Superorganismus“ bezeichnet wird.
zitiert nach:
• Bär W, Suerbaum S: Physiologische Bakterienflora: Regulation und Wirkungen, iatrogene Störungen und Probiotika. In: Sebastian Suerbaum, Gerd-Dieter Burchard, Stefan H.E. Kaufmann, Thomas F. Schulz (Hrsg.): Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie (8. Auflage). Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, 2016 (bei Amazon kaufen).
Bildnachweis
• vrx123 (fotolia.com, 169640048).
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weitere Infos
• Präbiotische Behandlung bei chronischer Verstopfung
• Darmgesundheit: Superorganismus Mensch