See­le und Gesell­schaft

DDR - Plattenbau
Beeng­tes Woh­nen kann dick machen …

Ursa­chen von Über­ge­wicht (Fol­ge 13 von 14)

Um eine wich­ti­ge Grup­pe von Über­ge­wichts-Ursa­chen schlei­chen die meis­ten unse­rer gut bezahl­ten Adipositas-„Experten“ her­um wie eine Kat­ze um den hei­ßen Brei: Näm­lich die see­lisch-geis­ti­gen und/oder gesell­schaft­li­chen Ursa­chen für die rasan­te Zunah­me von lebens­läng­li­chem Über­ge­wicht über­all auf dem Glo­bus („Adi­po­si­tas-Epi­de­mie“).

Beschö­ni­gend wird zwar ger­ne manch­mal von „schwe­rer Kind­heit“ gespro­chen, die ohne Zwei­fel bei Kin­dern, Jugend­li­chen und spä­ter auch bei Erwach­se­nen schuld ist an star­kem Über­ge­wicht [1]. Doch kaum jemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann sich vor­stel­len, wie stän­di­ger Dau­er­stress wegen Arbeits­lo­sig­keit, Mob­bing am Arbeits­platz, ewi­ge finan­zi­el­le Sor­gen oder fami­liä­re Kri­sen frü­her oder spä­ter zu chro­ni­schen Krank­hei­ten ein­schließ­lich Über­ge­wicht füh­ren kön­nen. Tat­sa­che ist, dass dies tag­täg­lich mit­ten unter uns pas­siert [2, 3], nicht zuletzt, weil die rie­si­ge Kluft zwi­schen Arm und Reich immer wei­ter auf­reißt. Es ist übri­gens eine men­schen­ver­ach­ten­de Frech­heit, gera­de den Benach­tei­lig­ten in unse­rer Gesell­schaft die „Schuld“ für ihre Erkran­kun­gen, ihr Über­ge­wicht oder ihre oft sehr vie­le kür­ze­re Lebens­zeit zuzu­schrei­ben, wie dies Poli­ti­ker, Sozi­al­wis­sen­schaft­ler oder Medi­en­ver­tre­ter teil­wei­se tun!

Armut, Sor­ge oder see­li­sche Ver­let­zun­gen machen dick

Die Ein­kom­mens-Ver­hält­nis­se bestim­men mehr­heit­lich, wo Men­schen leben. Bei­spiel: In Gegen­den mit star­kem, lau­tem Ver­kehr, mit ver­dreck­ter, unge­pfleg­ter Umge­bung, feh­len­den Grün­flä­chen zur Erho­lung oder schma­len, kaput­ten Bür­ger­stei­gen ste­hen die­se schlech­ten Sozi­al­be­din­gun­gen häu­fig im Zusam­men­hang mit der Ent­ste­hung von Über­ge­wicht [4]. Grund­sätz­lich führt ein Leben in der moder­nen, lau­ten, dau­er­be­trieb­sa­men, geld­gie­ri­gen oder oft aggres­siv aso­zia­len Zivi­li­sa­ti­on mil­lio­nen­fach zu Krank­heit und Adi­po­si­tas. Ohne Fra­ge ist bei­spiels­wei­se auch häu­fi­ge Schlaf­lo­sig­keit oder chro­nisch gestör­ter Schlaf eine rele­van­te Ursa­che für den dau­er­haf­ten Anstieg des Kör­per­ge­wichts [5, 6]. Genau­so wie die Ver­lo­ren­heit vie­ler Men­schen in einer für sie angst­aus­lö­sen­den Welt, also ihre zutiefst als schmerz­haft emp­fun­de­ne Ein­sam­keit, zu Über­ge­wicht führt [7]. Grund­sätz­lich kön­nen vie­le ein­schnei­den­de Lebens­er­eig­nis­se und Kri­sen (zum Bei­spiel der Tod eines Kin­des oder anhal­ten­de Arbeits­lo­sig­keit) oder ein aus­ge­präg­ter Ver­lust der vita­len Lebens­kraft (zum Bei­spiel bei der Viel­fach­be­las­tung vie­ler allein­er­zie­hen­der Müt­ter) zu Adi­po­si­tas füh­ren [8].

Oblate
Moder­nes Ablass-Sie­gel, oft teu­er

Dicke sind die neu­en Aus­sät­zi­gen

Dies sind nur eini­ge weni­ge Bei­spie­le, die die Ver­ur­sa­chung von Adi­po­si­tas durch ver­schie­dens­te Lebens­um­stän­de andeu­ten. Nicht ver­ges­sen wer­den soll­te auch das Umge­kehr­te! Mil­lio­nen Über­ge­wich­ti­ge lei­den schwer unter der Stig­ma­ti­sie­rung, den Vor­ur­tei­len und der Dis­kri­mi­nie­rung, die ihnen tag­täg­lich begeg­net. Vie­le reagie­ren im Ver­lauf ihres Lebens mit aus­ge­präg­ten psych­ia­tri­schen Beschwer­den auf die­se unge­rech­te Behand­lung durch die Mit­men­schen, bei­spiels­wei­se mit tie­fen Depres­sio­nen oder Selbst­mord­ge­dan­ken [9].

Ärz­te und ande­re Gesundheits-„Experten“ sind wesent­lich an die­ser Dis­kri­mi­nie­rung schuld, weil sie die ideo­lo­gi­sche Grund­la­ge hier­für lie­fern. Sie behaup­ten fälsch­li­cher­wei­se, zu viel Essen und/oder zu wenig Bewe­gung sei­en vor allem schuld an der welt­wei­ten Über­ge­wichts-Epi­de­mie. Und damit, so ihre men­schen­zer­stö­ren­de Pro­pa­gan­da, sei jede und jeder Über­ge­wich­ti­ge sel­ber schuld und tra­ge die Ver­ant­wor­tung für das Über­ge­wicht selbst. Das ist völ­li­ger Unsinn!

Absolution
BZgA: „Das Fege­feu­er der ererb­ten Schuld …“

Moder­ner Ablass­han­del füllt die Taschen vie­ler

Natür­lich ist die­se Ideo­lo­gie – die wie zum Bei­spiel die katho­li­sche Dok­trin in Rom („Urschuld“) oder die ras­sis­ti­sche Dok­trin im Nazi­reich eine grund­le­gen­de Schuld von „ras­sisch abwei­chen­den“ Indi­vi­du­en annimmt („Schuld­ver­mu­tung“) – für Ärz­te und Indus­trie ide­al, um end­los Geld zu schef­feln. Über die wah­ren Ursa­chen des Über­ge­wichts wird nicht gespro­chen. So kön­nen mit einer ver­spro­che­nen (aber aus­blei­ben­den) „Lin­de­rung“ oder „Hei­lung“ des Über­ge­wichts-Leids durch Beich­te, ärzt­li­che Behand­lung, durch kalo­rien­re­du­zier­te Light-Pro­duk­te oder grund­sätz­lich „Ablass­han­del“ in jeder Form Dau­er-Abhän­gig­kei­ten geschaf­fen, und damit gigan­ti­sche Gewin­ne ein­ge­fah­ren wer­den- bis in alle Ewig­keit, Amen!

Nur ein ein­zi­ges Bei­spiel für das in Wirk­lich­keit man­geln­de Inter­es­se von psych­ia­tri­schen oder psy­cho­lo­gi­schen Dienst­leis­tern an ihren Pati­en­ten als Men­schen: Aktu­el­le Unter­su­chun­gen zum Wohn- und Arbeits­ort die­ser Herr­schaf­ten bestä­ti­gen, dass sie meist nicht wohn­ort­nah bei ihren Pati­en­ten leben und arbei­ten, son­dern dort, wo es gute Schu­len für ihre eige­nen Kin­der gibt – also zum Bei­spiel in den rei­chen Vil­len­vier­teln der Städ­te [10].

Wich­tig: Bei aller Kri­tik an den Psycho-Dienst­leis­tern: Es soll­te berück­sich­tigt wer­den, dass psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men bei chro­ni­schem Über­ge­wicht nur einen sehr sehr gerin­gen the­ra­peu­ti­schen Nut­zen haben (in den weni­gen kon­trol­lier­ten Stu­di­en etwa einen mitt­le­ren Gewichts­ver­lust von 2,5 kg im Stu­di­en­zeit­raum). Die­se „Erfol­ge“ blei­ben zudem meist nicht nach­hal­tig erhal­ten [11]. Scha­de um den gan­zen teu­ren Fir­le­fanz!

Pro­pa­gan­da, bewuss­te Lüge, Aus­gren­zung — wem nützt das?

Abschlie­ßend noch ein aktu­el­les Zitat der „Bun­des­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Auf­klä­rung“ (BZgA). „Mehr Gesund­heit für die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ist das Ziel der Arbeit“ der Bun­des­ober­be­hör­de, die jähr­lich über 30 Mil­lio­nen Steu­er­gel­der vom Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um für die „Auf­klä­rungs­ar­beit“ ihrer knapp 90 Mit­ar­bei­ter zuge­wie­sen bekommt. In den Pro­pa­gan­da­un­ter­la­gen der Behör­de zu den Ursa­chen von kind­li­chem Über­ge­wicht heißt es (14.11.2014): „(…) Dick­sein ist Ver­an­la­gung. Unser Kör­per­ge­wicht ist in unse­rem Erb­gut fest­ge­legt. Zumin­dest zu etwa 70 Pro­zent – Wenig Bewe­gung – Ungüns­ti­ges Ess­ver­hal­ten (…)“. An ande­rer Stel­le heißt es: „Adi­po­si­tas ist eine Ess­stö­rung“. Genau das will die Ernäh­rungs­in­dus­trie und das Gesund­heits­we­sen von Staat und Wis­sen­schaft hören: Ent­we­der gibt es nur Ursa­chen jen­seits irgend­wel­cher Ver­ant­wor­tung („Erb­gut“) oder die Betrof­fe­nen sind sel­ber schuld (bewe­gen sich also zu wenig und essen „ungüns­tig“). Wie mehr­fach in mei­ner Serie zu den Ursa­chen von Über­ge­wicht ange­deu­tet, sind alle drei gebets­müh­len­ar­tig vor­ge­tra­ge­nen Aus­sa­gen falsch (in Hin­sicht auf die aktu­el­le Adi­­po­­si­­tas-Epi­­de­­mie). Und sie sind gesell­schafts­po­li­tisch und öko­no­misch als bewuss­te Pro­­pa­­gan­­da-Lüge zu bezeich­nen.

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Gesund­heits­be­ra­ter, Ber­lin, 14. Novem­ber 2014.
Bild­nach­wei­se
• Tom-Hanisch, 2014: DDR-Pla­t­­ten­­bau (fotolia.com, 29863661).
• mops­gra­fik, 2014: kalo­rien­re­du­ziert (fotolia.com, 40293336).
• Johann Phil­ipp Steud­ner: Gebet im Namen der ver­lo­re­nen Geis­ter im Fege­feu­er. 17. Jh., Holz­schnitt.
Quel­len
[1] Lumeng JC, Wen­dorf K, Pesch MH, Appu­glie­se DP, Kaci­ro­ti N, Cor­wyn RF, Brad­ley RH: Over­weight ado­le­s­cents and life events in child­hood. Pedia­trics. 2013 Dec;132(6):e1506-12.
[2] Tamas­hiro KL: Meta­bo­lic syn­dro­me: links to social stress and socioe­co­no­mic sta­tus. Ann N Y Acad Sci. 2011 Aug;1231:46–55.
[3] Gun­der­sen C, Mahat­mya D, Garas­ky S, Loh­man B: Lin­king psy­cho­so­cial stres­sors and child­hood obe­si­ty. Obes Rev. 2011 May;12(5):e54-63.
[4] Powell-Wiley TM, Ayers CR, de Lemos JA, Lako­ski SG, Vega GL, Grun­dy S, Das SR, Banks-Richard K, Albert MA: Rela­ti­onship bet­ween per­cep­ti­ons about neigh­bor­hood envi­ron­ment and pre­va­lent obe­si­ty: data from the Dal­las Heart Stu­dy. Obe­si­ty (Sil­ver Spring). 2013 Jan;21(1):E14-21.
[5] Gut­iérrez-Repi­­so C, Sori­guer F, Rubio-Mar­­tín E, Est­e­va de Anto­nio I, Ruiz de Ada­na MS, Alma­raz MC, Olvei­ra-Fus­­ter G, Mor­cil­lo S, Val­dés S, Lago-Sam­­pe­­dro AM, García‑Fuentes E, Rojo-Mar­­tí­­nez G: Night-time sleep dura­ti­on and the inci­dence of obe­si­ty and type 2 dia­be­tes. Fin­dings from the pro­s­pec­ti­ve Pizar­ra stu­dy. Sleep Med. 2014 Aug 11.
[6] Sive­rt­sen B, Lal­luk­ka T, Salo P, Pal­le­sen S, Hysing M, Krok­stad S, Simon Øverland: Insom­nia as a risk fac­tor for ill health: results from the lar­ge popu­la­­ti­on-based pro­s­pec­ti­ve HUNT Stu­dy in Nor­way. J Sleep Res. 2014 Apr;23(2):124–32.
[7] Mush­t­aq R, Shoib S, Shah T, Mush­t­aq S: Rela­ti­onship bet­ween loneli­ne­ss, psych­ia­tric dis­or­ders and phy­si­cal health ? A review on the psy­cho­lo­gi­cal aspects of loneli­ne­ss. J Clin Diagn Res. 2014 Sep;8(9):WE01‑4.
[8] Iver­sen LB, Stran­d­­berg-Lar­­sen K, Pres­cott E, Schn­ohr P, Rod NH: Psy­cho­so­cial risk fac­tors, weight chan­ges and risk of obe­si­ty: the Copen­ha­gen City Heart Stu­dy. Eur J Epi­de­mi­ol. 2012 Feb;27(2):119–30.
[9] Kara­su SR: Of mind and mat­ter: psy­cho­lo­gi­cal dimen­si­ons in obe­si­ty. Am J Psy­cho­ther. 2012;66(2):111–28.
[10] Hart­mann M: P‑O‑LAND: Psy­cho­on­ko­lo­gi­sche Ver­sor­gung im länd­li­chen Raum – Bei der Ver­net­zung ver­ges­sen? Vor­trag bei der 12. Jah­res­ta­gung der Arbeits­ge­mein­schaft für Psy­cho­on­ko­lo­gie (PSO), Dres­den, 22.11.2013.
[11] Shaw K, O’Rour­ke P, Del Mar C, Kenar­dy J: Psy­cho­lo­gi­cal inter­ven­ti­ons for over­weight or obe­si­ty. Coch­ra­ne Data­ba­se Syst Rev. 2005 Apr 18;(2):CD003818.