ADHS und Adipositas: Wie zwei Erkrankungen sich gegenseitig verstärken

Dicker FernsehzuschauerWer an ADHS denkt, hat oft das Bild eines hyperaktiven Kindes vor Augen. Wer an Adipositas denkt, verbindet Übergewicht mit Vorurteilen wie mangelnder Disziplin. Doch beide Erkrankungen haben mehr gemeinsam, als viele vermuten: Sie wurzeln im Gehirn, überschneiden sich genetisch – und bedingen sich oft gegenseitig, sagt Dr. Wolfgang Köhmen (Essen) in einem aktuellen Podcast-Beitrag „ADHS & Adipositas: Der unterschätzte Zusammenhang“.

Die gleichen Gene, die zu ADHS führen, führen in anderen Organen als im Gehirn zu Adipositas (Köhmen)

Genetische Verbindungen

60–80 % des Adipositas-Risikos sind genetisch bedingt – ähnlich wie bei ADHS. Viele der Gene, die Dopamin-Störungen bei ADHS begünstigen, beeinflussen auch die Appetitregulation. Diese neurobiologische Überlappung erklärt, warum Menschen mit ADHS ein 40 % höheres Risiko für Adipositas im Kindesalter und 70 % im Erwachsenenalter tragen (Meta-Analyse von Samuel Cortese, siehe Quellenverweis).

Gestörte Hirnfunktionen

Beide Erkrankungen betreffen dieselben Hirnareale: Das Belohnungssystem ist bei ADHS-Betroffenen unterempfindlich, sodass sie stärkere Reize wie Süßes brauchen, um Befriedigung zu spüren. Die Impulskontrolle ist geschwächt, was zu spontanen Heißhungerattacken führt. Zudem behindern Planungsdefizite (Exekutivfunktionen) das Einhalten von Mahlzeitenroutinen oder Diätplänen.

Warum ADHS Adipositas begünstigt – 4 Schlüsselmechanismen

Impulsives Essverhalten  Der berüchtigte „See-Food-Effekt“ („Ich sehe Essen, also esse ich es“) trifft auf ADHS besonders zu: Snacks werden ungeplant verzehrt, Mahlzeiten übersprungen, Fertigprodukte bevorzugt. Ohne Struktur greifen Betroffene zu schnellen Kalorien – oft spätabends oder nachts.
Emotionale Regulation  Stress, Frust oder Langeweile lösen bei ADHS häufiger „Frustessen“ aus. Essen dient als Selbstberuhigung – ähnlich wie bei Suchterkrankungen. Zucker wirkt hier wie eine Droge: Er triggert das Dopaminsystem, das bei ADHS ohnehin gestört ist.
Gestörte Routinen  Planungsdefizite führen zu chaotischen Essenszeiten. Wer das Frühstück auslässt, entwickelt abends Heißhunger auf Kohlenhydrate. Gleichzeitig fällt es schwer, gesunde Mahlzeiten vorzubereiten – Fast Food wird zur Standardlösung.
Reduzierte Therapieerfolge  Diätpläne oder Sportprogramme scheitern oft an mangelnder Motivation – ein klassisches ADHS-Problem. Ohne Behandlung der zugrundeliegenden Aufmerksamkeitsstörung bleiben Verhaltensänderungen wirkungslos.

Achtung: Bei Jugendlichen tritt Adipositas oft erst auf, wenn die Hyperaktivität nachlässt („daddelnde Couch-Potato“-Phase). Gleichzeitig wird ADHS in dieser Lebensphase seltener diagnostiziert.

Adipositas wird oft gar nicht als Erkrankung angesehen, sondern als Erziehungsfehler. Aber Menschen mit Adipositas sind keine „schlechten Menschen“, die faul sind. Tatsache ist vielmehr, dass einem die Erkrankung zu einem großen Teil „in die Wiege gelegt wird“, und die Betroffene nicht selbst verantwortlich sind (Köhmen)

Stigmatisierung: Warum beide Erkrankungen unterschätzt werden

ADHS und Adipositas gelten fälschlich als „selbstverschuldet“. Dabei zeigen Studien:
– Adipositas ist eine chronische Stoffwechselstörung – kein „Erziehungsfehler“.
– ADHS wird bei Mädchen oder Erwachsenen oft übersehen, besonders wenn Adipositas im Vordergrund steht.

Folge: Betroffene suchen spät Hilfe – erst wenn Folgeerkrankungen wie Diabetes Typ 2, Bluthochdruck oder Depressionen auftreten. Gleichzeitig trauen sich viele nicht, über Essanfälle oder ADHS-Symptome zu sprechen – aus Angst, als „willensschwach“ abgestempelt zu werden.

Therapie: So durchbricht man den Teufelskreis

  • ADHS früh diagnostizieren – auch bei Adipositas
    – Screening bei Adipositas: Bei wiederholt gescheiterten Diäten oder emotionalem Essen immer an ADHS denken. Kurzfragebögen wie der ASRS (Adult ADHD Self-Report Scale) helfen, Hinweise zu sammeln.
    – Körperliche Untersuchung: In der ADHS-Therapie sollten Gewicht, BMI und Blutdruck regelmäßig kontrolliert werden – besonders bei Jugendlichen, wenn die Hyperaktivität nachlässt.
  • Integrierte Therapieansätze
    – Struktur schaffen: Feste Mahlzeiten ohne Ablenkung (kein TV!), gemeinsames Kochen als Ritual und Vorratsplanung reduzieren Impulskäufe.
    – ADHS-Medikation: Stimulantien wie Methylphenidat regulieren den Appetit nicht durch Unterdrückung, sondern durch verbesserte Impulskontrolle. Studien zeigen: Bei konsequenter Einnahme sinkt das Adipositas-Risiko.
    – GLP-1-Analoga: Die „Abnehmspritze“ hilft bei Sättigungsstörungen, wirkt aber nur in Kombination mit Verhaltensänderungen. Wichtig: Bei ADHS-Patienten ist die Wirkung bariatrischer Operationen oft geringer.
  • Psychoedukation & Unterstützung
    – Entstigmatisierung: Ärzte sollten Betroffene über genetische Ursachen aufklären – das entlastet Familien und fördert die Therapiemotivation.
    – Interdisziplinäre Netzwerke: Hausärzte, Ernährungsberater und Psychiater müssen zusammenarbeiten, um beide Erkrankungen parallel zu behandeln.

Praktische Tipps für Betroffene
– Snackfallen vermeiden: Süßigkeiten außer Sichtweite lagern, stattdessen gesunde Snacks (Nüsse, Obst) griffbereit halten.
– Bewegung in den Alltag einbauen: Kurze Tanzeinheiten oder Spaziergänge sind realistischer als stundenlanger Sport.
– Realistische Ziele: Eine Gewichtsreduktion um 5 % senkt Gesundheitsrisiken bereits spürbar – Perfektionismus ist unnötig.

Doppelt krank, aber nicht chancenlos
ADHS und Adipositas verstärken sich – doch die Kombination ist kein Schicksal. Entscheidend sind eine frühe Diagnose, eine konsequente ADHS-Therapie und die gesellschaftliche Entstigmatisierung beider Erkrankungen. Wer versteht, dass Übergewicht bei ADHS selten „Faulheit“ ist, sondern neurobiologische Gründe hat, kann Betroffenen wirksamer helfen – und lebensgefährliche Folgeerkrankungen verhindern.

Quelle
• Aus der Podcast-Reihe „ADHS: Kein Grund zur Panik!“ des Expertenrates ADHS: Beitrag „ADHS & Adipositas: Der unterschätzte Zusammenhang“, 15.4.2025, Köln/Berlin (Original).
Bildnachweis
• Creativa, 2014: Lazy fat man at home (fotolia.com, 66282766).
weitere Infos
• Ursachen von Übergewicht: Seele und Gesellschaft
• Abnehmspritze GLP-1
• Cortese S, Moreira-Maia CR, St Fleur D, Morcillo-Peñalver C, Rohde LA, Faraone SV: Association Between ADHD and Obesity: A Systematic Review and Meta-Analysis. Am J Psychiatry. 2016 Jan;173(1):34-43 (DOI, Kurzfassung, Volltext).